Die Echternacher Springprozession
Ein seltsames Schauspiel.
Im glanzumwobenen Sauerstädtchen, mit seinen Mauern voll raunender Erinnerungen, begibt sich alljährlich, am Pfingstdienstag, etwas Großes, Wunderbares; etwas, das es sonst auf Erden nirgends gibt. Ein Schauspiel ist es, das dir in die Seele greift: hingerissen vom Rythmus einer uralten Weise treiben da am Morgen, um die zehnte Stunde, zehntausend tanzende Menschen schwer und ernst durch die Straßen der Stadt.
Vornauf trippeln Schweizer u. Meßbuben mit Kreuz und hohen Fahnen. Dann folgt ein langes, singendes Menschengewimmel; lauter kernige Männer sind es. In unzählige von kleinen selbständigen Chören aufgeteilt singt der ganze Trupp die Litanei Skt. Willibrords, zu dessen Grab es hingeht. Es ist ein frommes Durcheinander; doch man sucht sich zu behaupten. Breit und wuchtig singen die Bässe, dünn und schebbernd die mit Fistelstimmen. Bei allen aber klingt es wie im Sturm auf den Himmel, wie wilder Aufschrei schmerzverkrampfter Herzen: Du kannst uns ja nicht überhören! Bitt für uns, bitt für hl. Willibord!
Uns so singt es auch die Geistlichkeit von der Stadt und Land, die werdende und die im Amte stehende. In zwei Kolonnen gestaffelt kommen sie daher, feierlich, gemessen alle, von feingeplätteten Chorhemden ist's ein langer blühweißer Zug. In der Mitte schreiten vornehm und würdevoll Prälaten, Aebte in Kukulle oder reichgesticktem Pluviale; dahinter andere Kirchenfürsten mit diamantblitzenden Mitren und hohen, goldfunkelnden Krummstäben.
Aufspringt jetzt jäh und gell ein Takt Musik. Erst kann man's gar nicht fassen. Auge und Ohr sind wie überfallen. Denn wie der erste Ton geklungen, stoßen hundert Kinderköpfe auf und nieder; dann steigen sie und fallen wieder, gehen hoch und sinken wieder. Ein wunderbares Auffluten und Abebben der Glieder ist es. Darüber steht lockend, werbend, über auch aufreizend u. gebieterisch die Melodie, die all die Körper vorwärtswirft und rücksichtslos in ihren Bann reißt. Nicht Sorge, aber tiefer Ernst steht in den Kindermienen. Ja, die Kleinen wissen's schon: sie beten mit den Füssen. Es überläuft dich warm und kalt. Wer eben noch in blödem Spott auflachen wollte, fühlt nun auch schon ein leises Beben, ein stilles Weinen durch die Adern rieseln.
Einher springt nun die frische, starke Jugend: Studierende, Werktätige durcheinander. Wohl mancher ist darunter, der nur mit einem Zipfel mehr an seiner Väter Glauben hängt. O mächtiger Heiliger, knüpfe heut aufs neu die Fäden zwischen Gott und diesen Seelen. Diese Jungens springen alle imponierend flott und hoch, draufgängerisch hoch Doch stehen ihnen selbst die reifen Männer viel nicht nach.
Jetzt naht ein Bild, das rührt dich an deinem Innern: ausgearbeitete Greise holpern daher mit schwerem, plumpem Hub und Fall. Und dann die abgehärmten Mütterchen im weißen Haar; sie wiegen schwach die Körper und wippen leiſe mit den Köpfen. Da! Eine Eifelbäuerin mit einem großen kranken Kind in Armen; das trägt sie unterm Brand der Mittagssonne mühsam springend ans Grab des großen Wundertäters. O, wieviel Weh sich doch daherschleppt! O arme, gemarterte Menschheit! Wie ein einziger gewaltiger Notschrei zuckt es durch all die Herzen dieser großen, schwarzen Menschenmasse. Wie einziges dumpfes Riesenbeten liegt es schwer in all den engen Gassen. Ja hl. Willibrord, hier Hilfe, hier tröste du! O, treibe aus die Trauer dieser müden Blicke und streue Freudenglanz in diese armen Augen, wenn sie, nach langem, fieberhaftem Suchen, am Ende doch dein Grabmal schauen.
Georges Kiesel
Echternacher Anzeiger 77. Jahrgang - № 42 vom 31 Mai 1939 (Seite 1)